Sinn und Zweck der Praxis

Das Kernstück der Zen Übung ist zweifellos das Sitzen in Versenkung, das Zazen. Durch das unbewegliche Sitzen, die Konzentration in unserem Hara und die Beobachtung unseres Atems kommen wir zu uns selbst. Die Gedanken, welche ohne Unterlass entstehen, werden unwichtig und wir erfahren die Wirklichkeit unbeeinflusst von den üblichen Wünschen unseres besitzergreifenden Ego – wir fühlen uns verbunden anstatt getrennt ; das wird Samadhi genannt. Daneben gibt es aber noch andere Aspekte der Zen Übung, welche auf der ganzen Welt, nicht nur von den Mönchen und Nonnen in den Klöstern, sondern auch von den Laien in den Zendô und Dôjô praktiziert werden. Dazu gehören das Rezitieren von Sutren, die Verbeugungen, die Gehmeditation, Dokusan (Zwiesprache mit dem Lehrer), die allgemeine Disziplin und das Samu, das Arbeiten in konzentrierter Stille und Hingabe. Im Folgenden möchte ich einige Erklärungen abgeben zu diesen Formen der Übung.

Sutra Rezitation:

Sutren und Dharanis (die Lehren Shakyamuni Buddhas und mystische Verse) werden in den Zen Klöstern mehrmals täglich, und in den Dôjô jeweils vor und nach dem Zazen rezitiert. Das geschieht oft in sino-japanischer Sprache, einer japanischen Aussprache chinesischer Schriftzeichen. Natürlich gibt es Übersetzungen der Sutren und der Dharani, und es lohnt sich immer diese Übersetzungen zu studieren. Bei der Rezitation aber geht es in erster Linie um unsere Stimme und den Atem. Wir sollten laut, kräftig und aus dem Bauch heraus rezitieren, und uns um nichts anderes kümmern. Die Wirkung dieser Art Atemübung ist erstaunlich. Alle Arten von Spannungen, Sorgen, Frustrationen oder Ängsten drücken sich mit unserer Stimme aus, und verlassen uns so.

Verbeugungen:

Nicht nur zur Begrüssung unter uns, sondern auch viele Male vor und nach dem Zazen verbeugen wir uns vor dem Altar und vor den anderen im Zendo. Auch werfen wir uns gemeinsam vor dem Altar dreimal zu Boden und halten unsere Handflächen nach oben, so als ob wir Buddhas Füsse hochhalten würden. Dieses sich verbeugen drückt aus, dass wir unser persönliches Ego, also unsere Vorlieben, Abneigungen, Wünsche, Befürchtungen und Vorurteile aufgeben zugunsten von etwas Grösserem: Der Übung des Zen, der Gemeinschaft, der Lehre Buddhas, des universellen Ursprungs, dessen, was uns hervorgebracht hat. Wie beim Rezitieren ist auch hier das körperliche Tun, der tatsächliche Vollzug in der Realität, wichtig. Dieser körperliche Ausdruck ist viel wirkungsvoller als das blosse Denken. Er führt dazu, dass wir in allen möglichen Situationen beweglich bleiben und uns den gegebenen Umständen anpassen, und rücksichtsvoll darauf reagieren können.

Kinhin, Gehmeditation:

Zwischen den Sitzperioden gehen wir in Einerreihe in achtsamen Schritten und in voller Konzentration umher. Dabei halten wir unsere Hände vor dem Brustbein, die rechte Faust in der linken Hand. Wie beim Sitzen auch soll die linke Hand die rechte dominieren. Beim Sitzen soll die linke Hand auf der rechten ruhen. Die linke Körperhälfte wird von der rechten Hirnhälfte gesteuert, und die rechte Körperhälfte von der linken Hirnhälfte. Man schreibt der linken Hirnhälfte das logische, intellektuelle Denken und die Steuerung der Sprachfunktionen zu. Die rechte Hirnhälfte verbindet man mit Intuition und Emotionen. Beim Üben von Zazen und bei der Gehmeditation soll also das intellektuelle, sprachliche Denken zugunsten der Intuition in den Hintergrund treten. Durch die Konzentration auf unser Hara, die Körpermitte, wird die Intuition gestärkt.
Während dem Kinhin ist es möglich das WC zu benutzen. Wir verlassen dazu mit einer Verbeugung die Einerreihe und kehren mit einer Verbeugung an unseren Platz in der Reihe zurück.

Dokusan:

Unter Dokusan, auch Sanzen genannt, versteht man die Zwiesprache mit dem autorisierten Lehrer.  In der Rinzai Zen Tradition werden den fortgeschrittenen Schülern Aufgaben gestellt, sogenannte Kôan, die der Schüler lösen, bzw. durchdringen soll. Im Dokusan präsentiert der Schüler seine Einsichten und Erfahrungen,  und bespricht sie mit dem Lehrer. Aufgrund seiner grossen Einsicht und Erfahrung beurteilt der Lehrer die Qualität der Erfahrung des Schülers und wird ihn entsprechend führen und anspornen. Er kann auch Fragen im Zusammenhang mit  der Zen Meditation stellen.

Allgemeine Disziplin:

Im dem Raum in dem wir Zazen üben wird nicht geschwatzt. Wir bewegen uns konzentriert und nur soweit wie es der Ablauf verlangt. Es ist verboten im Zendô zu gähnen. Auch wenn wir uns müde oder schläfrig fühlen, sollen wir uns aufrichtig bemühen, durch Konzentration auf die Atmung im Hara wach zu bleiben. Die Kleidung im Zendô soll unauffällig und wenn möglich dunkel sein. Wir verzichten auf Makeup und Parfums. Diese geübte Disziplin hilft uns von unserer übertriebenen Ich-Verhaftung loszukommen und zu einem ganzheitlichen, universellen Bewusstsein zu erwachen.

Samu:

Samu wird oft als Arbeit übersetzt. Es ist aber viel mehr als das. Es ist die Fortsetzung der Meditation während dem wir arbeiten. Kein Schwatzen, nur das Nötigste in Bezug auf die Arbeit wird kommuniziert. Konzentration und Hingabe werden aufrecht erhalten, ungeachtet davon ob wir die Tätigkeit lieben oder eher nicht begeistert sind davon. Was immer getan werden muss wird mit Gleichmut und Elan erledigt. So wird jedes Tun zu einem erfüllenden Erlebnis. All diese Elemente der Zen Übung wirken weit in unseren Alltag hinein. Mit der Zeit, mit den Jahren, den Jahrzehnten der Übung verschwindet die Trennung, der Unterschied zwischen Dôjô-Zen und Alltag immer mehr, und wir geniessen mit Hingabe und Konzentration jeden neuen Tag. Jeder Tag wird so zu einem guten Tag.

Vor 150 Jahren lebte eine Frau namens Sono, die wegen ihrer Frömmigkeit und Herzensreinheit weit und breit hoch angesehen war. Eines Tages kam ein buddhistischer Glaubensgenosse, der eine lange Reise unternommen hatte, um sie zu besuchen und fragte: „Wie kann ich meinen Geist zur Ruhe bringen?“ Sie erwiderte: „Sag nur beharrlich jeden Morgen und jeden Abend und immer, wenn dir irgendetwas zustösst: ‚Danke für alles. Ich kann mich nicht im Mindesten beklagen.‘ – Ein ganzes Jahr lang erfüllte der Mann getreulich diese Anweisung, aber sein Geist fand noch immer keinen Frieden. Niedergeschlagen kam er abermals zu Sono. „Ich habe dein Gebet immer wieder gesprochen und trotzdem hat sich in meinem Leben nichts verändert; ich bin noch immer derselbe Egoist wie zuvor. Was soll ich jetzt tun?“ Sono erwiderte sogleich: „Danke für alles. Ich kann mich nicht im Mindesten beklagen.“ Auf diese Worte hin vermochte der Mann sein geistiges Auge zu öffnen und kehrte in grosser Freude heim.


Bei diesem universalen Gelübde handelt es sich um das Gelübde welches der Bodhisattva Avalokiteshvara stellvertetend für alle Bodhisattvas abgelegt hat. Davon wird im 7. Kapitel des Lotus Sutra berichtet. Der Begriff Bodhisattva bedeutet „Wesen der Erleuchtung“. Avalokiteshvara (Sanskrit) ist uns besser bekannt als Kanzeon, Kannon oder Kwannon im Japanischen, oder auch Kuan Yin im Chinesischen. Dieses Wesen wird als der Bodhisattva des Mitgefühls bezeichnet. Er hört den „Klang der Welt“, das heisst die Seufzer der leidenden Wesen, und reagiert darauf. Im Laufe der buddhistischen Geschichte hat diese Gestalt mehrmals das Geschlecht gewechselt, wurde also zeitenweise als Frau und dann wieder als Mann dargestellt, oder auch ohne Geschlechtsmerkmale. Es handelt sich nicht um ein historisch verbürgtes Wesen das einmal gelebt hat.

Mit dem Gelübde, welches er abgelegt hat, verpflichtet sich Avalokiteshvara auf sein Eingehen ins Nirvana, auf die endgültige Erlösung aus den Wiedergeburten und auf seine Buddhaschaft zu verzichten, bis alle fühlenden Wesen zur Erlösung aus dem Leiden geführt worden sind. Diese grundsätzliche Haltung ist das grosse Ideal des Mahayana Buddhismus, zu dem auch unsere Zen Schule gehört. Im Gegensatz dazu wird im Hinayana Buddhismus, auch Theravada Buddhismus genannt, die eigene Erlösung, das eigene Eingehen ins Nirvana betont.

Jedes Mal wenn wir im Dojo beginnen mit dem Zazen rezitieren wir das Herz Sutra, das Grosse Licht Dharani, und zum Schluss die Vier Grossen Gelübde:

Die Wesen sind unzählig; Wir geloben sie alle zu retten
Die Leidenschaften sind unerschöpflich; Wir geloben sie alle abzuschneiden
Die Dharma Lehren sind unermesslich; Wir geloben sie alle zu meistern
Buddhas Weg ist unendlich; Wir geloben ihn zu gehen

Diese Vier Grossen Gelübde sind ihrem Sinn nach identisch mit dem Gelübde Avalokiteshvaras. Sie sind dem Gefühl von uns übenden Menschen angepasst, noch weit von der Buddhaschaft entfernt zu sein. Aus diesem Gefühl heraus erscheint es uns, wenn wir ehrlich sind, völlig unmöglich diese Gelübde halten zu können. Trotzdem wiederholen wir sie unendlich viele Male. Sie sind nichts anderes als der umfassende Ausdruck der uns innewohnenden Buddha Natur. Im Moment in dem wir diese Gelübde aus ganzem Herzen rezitieren und uns vornehmen, sie so gut es geht zu erfüllen, in diesem Moment sind wir nichts anderes als Buddha. Diese Haltung einzunehmen, ganz gleich was geschieht, ohne wenn und aber, heisst erlöst zu werden vom Leiden, vom Getrennt sein von allem Sein. Diese Haltung lässt uns aufgehen im Ganzen, überwindet die enge und eingeschränkte Sicht unseres individuellen und egoistischen Seins. Genau darin liegt die unendliche Tiefe dieser Versprechen die wir immer wieder ablegen. Möge unser Mitgefühl sich ausweiten auf das ganze Universum und tief wie der Ozean werden. 


Konnichi wa – So begrüssen sich die Japaner in der Umgangssprache. Das heisst wörtlich übersetzt „Heute“, oder „dieser Tag“, und entspricht unserem „Guten Tag“. Konnichi heisst also Heute.

 Der Ausdruck „Buji“ ist schwerer zu übersetzen. Er ist zusammengesetzt aus „Bu“, das heisst Nicht, oder Nichts, oder Kein, synonym zu unserem „Mu“ und zum chinesischen „Wu“. Und „Ji“, das heisst Aktivität, Ereignis, Machen, Existieren, Wollen. Sinngemäss meint Buji: Nichts zu tun haben, keine Pflicht, kein erreichen Wollen, oder auch ‚Nicht Tun‘, so wie im chinesischen Wu Wei. Wu Wei kennt man bei uns auch aus den asiatischen  Kampfkünsten wie dem Kung Fu, Wing Tsun und dem Wushu, aber auch aus dem Tai Chi und Quigong. Im Folgenden schreibe ich der Einfachheit halber einfach vom Nicht Tun.

Dieses Nicht Tun wurde schon im Konfuzianismus und im Taoismus, also im alten China und darüber hinaus im fernöstlichen Kulturraum, als eine Haltung, als eine Eigenschaft von Menschen mit grosser Verantwortung beschrieben und empfohlen. Im Tao Te King kommt dieser Spruch vor: Beim Nicht Tun bleibt nichts ungetan. Wir merken schon, dass dieses Nicht Tun keinesfalls meint, wir sollten regungslos den Tag im Bett oder auf dem Sofa verbringen. Wenn wir aber ohne irgendein Vorhaben zu verfolgen, ohne irgendein Ziel im Auge zu haben, ohne irgendetwas zu wollen, einfach achtsam im Hier und Jetzt präsent sind, dann können wir wahrnehmen was gerade getan werden muss. Haben wir gegessen, wartet das Geschirr darauf abgewaschen zu werden. Weint ein kleines oder grosses Menschenkind, will es getröstet sein. Hat sich Staub angesammelt, sollten wir putzen. Der Gründer unserer Zen Schule, Rinzai Gigen Zenji Dai Osho, gestorben um 867 im alten China, hat in einem seiner Vorträge gesagt:

„Für den Buddha Dharma ist keine künstliche Anstrengung nötig. Seid einfach natürlich, bemüht euch nicht. Scheissen, Pinkeln, Kleider anziehen, und euch hinlegen wenn ihr müde seid. Narren mögen lachen über mich, aber die Weisen verstehen.“

Diese Haltung des Nicht Tun steht in einem krassen Gegensatz zu den Werten welche unsere heutige Gesellschaft in Ehren hält. Von klein auf werden wir dazu angehalten Ziele zu verfolgen, uns zu bilden und zu optimieren, „etwas“ aus unserem Leben zu machen, materiellen Reichtum und gesellschaftliches Ansehen zu gewinnen. Und ob all dem uns Bemühen kommen wir uns selbst abhanden, trennen wir uns immer mehr von unserer Quelle. Nicht, dass wir uns tatsächlich trennen könnten von ihr. Sie bringt uns die ganze Zeit hervor und ist als Ursprung in uns anwesend. Aber wir verlieren die Sicht darauf, den Kontakt dazu, sind uns unserem Ursprung nicht mehr gewahr. Dieses „etwas aus unserem Leben machen“ ist wie einer Schlange Beine anheften, oder einen Hut auf unseren Hut setzen. Woher kommen wir denn? Sind wir nicht ganz und gar am Leben so wie wir sind? Kann ein Grashalm, kann die Sonne, kann eine Rose mehr aus sich machen? Dadurch, dass sie 100% das sind was sie sind, dadurch sind sie einzigartig, unvergleichlich und wunderbar. Es ist ein grosser Irrtum zu meinen es verhalte sich mit uns Menschen anders. Wurden wir nicht alle ganz von selbst geboren? Sind wir nicht alle ganz von selbst gewachsen, haben uns vom Baby zum Kind, vom Kind zum Jugendlichen, und vom Jugendlichen zum erwachsenen Menschen entwickelt, ohne dass wir etwas hätten dazu, oder dagegen tun können. Sind wir nicht, so verschieden und unvollkommen wie wir sind, absolut vollkommen? Warum haben wir das Vertrauen verloren in das Unfassbare, Unbegreifliche Etwas, oder besser Nichts, das uns, und die Welt, und das ganze unendliche Weltall in unauslotbarer Weisheit entstehen lässt?   

Nur ein Mensch der sich von allem inneren Lärm, von allem Wollen, von allem beurteilen und erreichen und vermeiden Wollen entleert hat, kann aus ganzem Herzen auf die Welt reagieren. Hätte Kanzeon, der Bodhisattva des Migefühls, eine innere Agenda, einen Plan, eine Absicht allen Wesen zu helfen in ihren Nöten  –  nie und nimmer könnte er all ihre Seufzer wahrnehmen und spontan aus seinem Mitgefühl darauf reagieren. In der Tat – nur beim Nicht Tun bleibt nichts ungetan.

Zum Schluss möchte ich noch auf die spontane, unbeschwerte Leichtigkeit und Eleganz hinweisen, mit der der Künstler diese Kalligraphie geschrieben hat, ganz im Einklang mit der Bedeutung der Worte.


Dieses Zitat ist Teil eines Satzes den Konfuzius selbst ausgesprochen haben soll um 290 vor Christus im alten China: „Der Weg ist nah, doch wir suchen ihn in der Ferne; das Werk ist leicht zu vollbringen, doch wir suchen die Schwierigkeiten.“

Der Weg, Dao im Chinesischen, Dô im Japanischen, kann auf verschiedene Arten verstanden werden. Einmal ist es der Weg, der von A nach B führt, dem Waldrand entlang, oder durch die Schlucht oder so. Dann hat er auch die Bedeutung von unserem Lebensweg auf dem wir unterwegs sind. Jede fortschreitende Entwicklung kann als Weg verstanden werden. Und so wird auch unsere Zen Schulung, unser Üben als Weg bezeichnet. Das Wort Dôjo ist zusammengesetzt aus Dô = Weg, und Jo = Ort; so ist das Dôjo der Ort wo geübt wird. Das gilt nicht nur für den Ort wo Zen geübt wird, sondern auch für einige andere Übungswege, vorab solche der fernöstlichen Kampfkünste wie Judo, Karate, Aikido usw. Wir sprechen auch oft vom Zendô was eine Abkürzung ist von Zen Dôjo.

Dieser unser Weg soll also nah sein. Wir brauchen ihn nicht in der Ferne zu suchen. Wir brauchen nicht nach Japan zu reisen um Zen zu üben. Damit können wir uns wahrscheinlich ohne weiteres einverstanden erklären. Zen hat die Worte von Konfuzius aber noch konkreter gefasst und sagt: Der Weg liegt unter deinen Füssen! Wo immer wir uns befinden, was immer wir gerade treiben, es ist nichts anderes als der Weg, unser Weg, unsere Entwicklung, unser Fortschreiten, unsere Übung. Wir brauchen nicht nach Japan zu reisen, nicht einmal ins Dojo zu fahren, ja nicht einmal das Haus zu verlassen.

Von diesem fundamentalen Standpunkt aus gesehen sind alle Menschen, im Grunde sogar alle Erscheinungen auf dem Weg, sich unablässig entwickelnd und verändernd. Fragen wir nach dem Ziel dieses Weges, oder anders gesagt, suchen wir es in der Ferne, gehen wir in die Irre. Nirgends anders als da wo wir gerade sind erfüllt sich der Weg in jedem Augenblick. Sind wir zurückgekehrt in den Grund und Ursprung unseres Seins, sind wir vollkommen zuhause und anwesend im Hier und Jetzt. Dann ergeht es uns wie dem Hirten in der Zen Geschichte „Der Ochs und sein Hirte“ auf der vorletzten Stufe:

„Schon hat der Hirte alle Kraft des Herzens verschwendet und  ist alle Wege zu Ende gegangen.
Sogar das klarste Erwachen übertrifft nicht Taubheit und Blindheit.
Unter den Strohsandalen endet der Weg, den er einst kam.
Kein Vogel singt. Rote Blumen blühen in herrlicher Wirre.“

Zitat aus dem Buch: Der Ochs und sein Hirte, Günther Neske Verlag

Diese Taubheit und Blindheit die hier gepriesen wird ist natürlich nicht das gewöhnliche nicht sehen und hören können. Es ist das befreit Sein von der Gier nach Gewinn und der Angst vor Verlust, das befreit Sein von Meinungen über Gut und Schlecht die aufstehen widereinander wie Speerspitzen im Schlachtfeld. Oder noch essentieller ausgedrückt: Buji  –  Nicht tun! Sind wir noch nicht soweit, müssen wir alle Kraft unseres Herzens verschwenden, müssen üben, müssen suchen, müssen ins Dôjo fahren um mit anderen zu praktizieren, müssen vielleicht sogar nach Japan reisen, bis der endlose Weg endet unter unseren Füssen, bis wir angekommen sind, da wo wir uns gerade befinden.


Dieses Wort Chisoku hat im Zen grösste Bedeutung. Es ist aus zwei Schriftzeichen zusammen gesetzt, wie man bei dieser Kalligraphie gut sehen kann. Das Schriftzeichen oben rechts ist Chi = Wissen; und das untere, linke Schriftzeichen ist soku = genug, genügend. Es geht also um das Wissen, dass da genug ist. Es ist genug da von Allem, genügend, mehr als genügend, mehr als genug. Das steht in krassem Gegensatz zu unserer ewigen menschlichen Unzufriedenheit. Wenn es nach dieser Unzufriedenheit ginge, dann wäre es nie genug. Selbst wenn wir etwas erreicht haben, das wir uns gewünscht haben, lässt der nächste Wunsch nicht lange auf sich warten, möchten wir mehr und besseres.      
Wie so vieles im Zen lässt sich auch dieser Begriff der Genügsamkeit auf den Taoismus zurückführen. Im Tao Te King kommt das Wort Zhisu, chinesisch für Chisoku, zweimal vor, nämlich im 33. und 44. Kapitel. Ich zitiere aus der Übersetzung ins Deutsche von Stephen Mitchells Übertragung des Tao Te King ins Englische:

„Siehst du ein, dass du genug hast (Chisoku), dann bist du wahrhaft reich.“

„Gib dich zufrieden mit dem, was du hast;
erfreu dich am Sosein der Dinge.
Wenn du einsiehst, dass nichts dir fehlt (Chisoku),
gehört dir die ganze Welt.“

Wenn wir hören es sei genug da von Allem, dann denken wir vielleicht zuerst an Nahrungsmittel, an Geld, an Platz zum Leben, an Freunde,  an Dinge die wir brauchen und für die wir sorgen müssen, dass wir sie bekommen. Wie steht es aber mit Krankheiten, Einschränkungen, Langeweile, Schmerzen, ob physisch oder emotional, mit Hunger, Einsamkeit und all diesen Dingen von denen wir das Gefühl haben wir bräuchten sie nicht, oder meinen wir könnten ohne sie leben. Zäh und eisern hält unsere Selbstsucht, unser Egoismus daran fest, dass wir nur diejenigen Dinge brauchen, die uns angenehm sind, die unser Überleben garantieren. Weil uns dieser Egoismus den Blick verschleiert, haben wir grösste Mühe zu erkennen, dass Nichts in diesem Universum überflüssig ist, dass Alles gebraucht wird, und seinen uns vielleicht verborgenen Sinn hat. Wenn alle unsere Ansprüche an dieses Leben auf Null herunter gefahren werden, erst dann können wir erkennen, erfahren, dass es von Allem genug hat. Erst dann können wir dankbar annehmen, dass uns das Leben – genau so wie es ist – reich beschenkt.


Diese Kalligraphie ist frei geschrieben. Ich habe die Kanji unten angefügt, damit wir sehen können wie der Kalligraph die klassischen Schriftzeichen in ein dynamisches, lebendiges und intuitiv geschriebenes Kunstwerk umgesetzt hat. Der eine Strich rechts steht für Ein, Eins, Eine – japanisch Ichi. Und das Nyo steht für absolut, das Absolute; wie in unserer viel rezitierten Widmung zum Herz Sutra: Buddha Shakyamuni Nyorai. Wir könnten die Kalligraphie also wörtlich, und etwas hölzern, übersetzen: Ein Absolutes. Dieses Absolute ist aber so absolut, dass es gar nicht Eins sein kann, noch weniger Zwei. Es ist unendlich, d.h. ohne Anfang, ohne Ende, Alles durchdringend, nicht fassbar, zeitlos ewig, nicht seiend, und bringt doch Alles Seiende hervor. Im Zen wird es auch Mu genannt.

Aber Schluss jetzt mit dieser intellektuellen Klugscheisserei. Wie kommen wir dahin in diesem Absoluten aufzugehen,  uns Eins zu fühlen damit. In unserem Koan Training sollten wir ja Eins werden mit dem Koan, mit der Situation die darin vorkommt, um zu einer Lösung zu gelangen. Und auch im Alltagsleben, so wird uns angeraten, sollten wir mit den Umständen Eins werden, um angemessen darauf reagieren zu können. Und manchmal, nur allzu selten, gibt es diese Momente in unseren Leben, in denen „Alles stimmt“, wie wir vielleicht sagen würden. Momente sind das, in denen wir keinerlei inneren Widerstand leisten gegen die Umstände, so wie sie gerade sind. Momente, in denen wir, ohne betäubt zu sein, uns einfach der Situation überlassen können, und vom Leben getragen, im Einklang mit dem Universum, und mit einem gewissen Glücksgefühl  wahrnehmen, dass Alles so ist wie es ist. Regt sich aber nur die kleinste Kritik in uns an den Begebenheiten, das leiseste Unbehagen, und sei es auch nur mit uns selbst, dann ist der Zustand verloren und wir finden uns wieder in dem wohlbekannten Gefühl, dass es noch nicht soweit und das Paradies noch weit weg ist. Üblicherweise führen wir das zurück darauf, dass halt die Umstände nicht so sind wie sie sein sollten, oder wir selbst halt noch nicht so fortgeschritten sind in unserer Entwicklung wie wir es uns erhofften. Nach Jahren der Übung, des Zen Trainings, merken wir aber, dass es nicht die Umstände sind, welche uns vom Eins-Sein abhalten. Solange wir versuchen die Umstände so zurecht zu biegen, dass sie unseren Bedürfnissen entsprechen, solange sind wir im Kampf mit ihnen, und somit getrennt. Erst wenn wir es aufgegeben haben die Welt verändern zu wollen, können wir Eins werden mit ihr, können wir sie, so wie sie ist, annehmen und aufgehen in ihr. Oft wird diese innere Einstellung als fatalistisch angesehen und entsprechend kritisiert. Das ist sehr oberflächlich gedacht. Wenn wir die Umstände so annehmen wie sie jetzt gerade sind, heisst das nicht, dass wir nicht tätig sein, und damit die Umstände verändern können. Wenn wir nach dem feinen Abendessen am Tisch sitzen und bemerken, dass das Geschirr, verunreinigt wie es ist, noch auf dem Tisch steht, dann können wir uns darüber aufhalten, ärgern, diskutieren, wie wir so etwas vermeiden könnten, oder sogar Vorwürfe formulieren und Schuldige suchen, welche zur Strafe das Geschirr abwaschen müssen. Wir können es aber auch einfach annehmen, Eins werden damit, und als natürliche Reaktion darauf, das Geschirr in die Küche tragen und es dort abwaschen. Was uns mit dem Geschirr, wie in diesem Beispiel, vielleicht noch gut gelingt, ist auf anderen Schauplätzen gar nicht einfach. Unser Eigenwille ist schier grenzenlos. Die Meinung, dass wir ein Recht darauf haben, dass das Universum, die Welt, die nähere Umgebung und wir selbst so zu sein hätten, wie wir es für gut halten, hält sich hartnäckig. Diesem Egoismus die Grundlage zu entziehen ist unsere Übung. Das geht nicht von Heute auf Morgen. Geduldiges Schleifen ist nötig. Wiederholen, Wiederholen, Wiederholen, und der wiederkehrende Wechsel zwischen Zazen, Sesshin und dem gewöhnlichen Alltag, in dem sich die Sammlung und Einsicht bewähren muss, ist unsere unablässige Übung auf dem Weg.

Ist aller Eigenwille einmal abgetan, sind wir einmal den Grossen Tod gestorben, einmal eingetaucht in das Absolute, dann ergeht es uns wie dem Hirten beim Zähmen des Ochsen auf der vorletzten Stufe seiner Entwicklung:

Schon hat der Hirt alle Kraft des Herzens verschwendet und ist alle Wege zu Ende gegangen.
Sogar das klarste Erwachen übertrifft nicht Taubheit und Blindheit.
Unter den Strohsandalen endet der Weg, den er einst kam.
Kein Vogel singt. Rote Blumen blühen in herrlicher Wirre.

Es braucht Mut, so zu werden wie tote Asche, den Grossen Tod einmal zu sterben. Aber nur so können wir uns des Absoluten gewahr werden, darin eintauchen, Eins werden damit. Auf gedanklicher Ebene können wir bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, was gemeint ist. Das erschöpfende Üben und die Erfahrung selbst, das eigene Erleben des Eins-Seins sind von einer ganz anderen, existentiell erschütternden Kraft. Heimgekommen, gibt es nichts mehr zu tun. Das Leben lebt sich auf wunderbare Weise selbst.

Tod und Leben – nicht Eins, nicht Zwei;
Sonne, Mond und Sterne;
Bäume, Gräser und Blumen;
Berge, Täler und Flüsse;
Menschen, Tiere und Viren;

Alle sind gesegnet


Wir Menschen neigen dazu solchen Lichtgestalten wie Kanzeon, oder der heiligen Maria, oder Jesus, und vielen anderen mehr, Verehrung zu erweisen, ihnen Opfergaben darzubringen, Räucherwerk zu offerieren und ihnen Gebete zu widmen. Wir möchten, dass etwas von ihrer Güte in der Welt aufscheint, ja vielleicht sogar ein wenig auf uns übergeht. Diese Rituale sind so alt wie die Menschheit, und sie sind auf ihre Weise schön.

Und doch – wenn wir uns in intensivem Bemühen darauf besinnen woher wir kommen, wer wir wirklich sind, dann erfahren wir, dass das, was uns – und Alles – hervorbringt, unser eigenes wahres Wesen ist. Dieses Etwas, welches bewirkt, dass wir geboren werden, dass unser Herz schlägt, unsere Leber funktioniert und unsere Haare wachsen, welches uns atmen lässt, ob wir wach sind oder schlafen, und welches uns auch sterben lässt wenn die Zeit gekommen ist, – dieses Etwas ist nichts anderes als das allumfassende Mitgefühl – weit jenseits von Mitleid, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und Weltverbesserung. Von allem anfangslosen Anfang an ist es da und wirkt. Alles was wir zu tun haben ist, ES zuzulassen.  

In Zen Kreisen wird das Wort Sesshin benutzt um eine gewisse Zeitspanne zu bezeichnen, während der Zazen (Meditation im Sitzen) die Hauptbetätigung der Teilnehmer ist. Ein Sesshin kann zwischen 1 und 10 Tage dauern, und die Zeit, während der Zazen praktiziert wird an einem Sesshin Tag, liegt zwischen 8 und 16 Stunden.

Das Wort Sesshin bedeutet wörtlich: Se = berühren, in Kontakt kommen; Shin = unser Herz-Geist, unser ursprüngliches, wahres Wesen. So heisst Sesshin also die grösstmögliche Anstrengung zu machen um mit unserem innersten wahren Sein in engen Kontakt zu kommen, bzw. uns dessen gewahr zu werden. Dieses wahre Wesen, unser Herz-Geist ist immer schon anwesend in uns. Aus ihm heraus sind wir lebendig, aus ihm heraus schlägt unser Herz und funktioniert unsere Leber. Und aus ihm heraus nehmen unsere Sinne wahr, und aus ihm heraus strömt unser Mitgefühl. Diese lebendigen Fähigkeiten halten wir normalerweise für so natürlich und selbstverständlich, dass wir sie ignorieren. Wir sind viel mehr daran interessiert Was wir wahrnehmen, und ob wir es mögen oder nicht mögen. Im alltäglichen Gefecht kämpfen wir darum zu bekommen was wir mögen, und zu vermeiden was wir nicht mögen. Darüber vergessen wir unser innerstes Sein. Sind wir aber fähig zu diesem inneren Sein heimzukehren, dann sind alle Sorgen vergangen. Und wir können dem Alltag erneut begegnen – erfrischt, erneuert und mit unerschütterlichem Selbstvertrauen. Das heisst Vertrauen in unser wahres Wesen, welches nichts zu tun hat mit dem, was wir in der Schule, oder in unserer beruflichen Laufbahn gelernt haben.

Um die intensive Faszination mit dem Spiel unseres Anhaftens und Ablehnens zu überwinden braucht es strenge Disziplin. Darum sind Sesshin immer streng und fordern grosse Disziplin. Das Üben von Zazen ist nichts anderes als die Anstrengung, die nötig ist, um uns zu lösen von unserem verstrickten Geist, der um die Qualität der Umstände kreist, in denen wir leben, und der versucht Kontrolle über sie zu erlangen zu unserem Vorteil, immer und immer wieder. Wenn wir zurückkehren zu unserem wahren Wesen lernen wir Dinge und Umstände zu akzeptieren wie sie sind. Wir lernen, nicht zu kämpfen gegen das was ist, sondern in Harmonie mit dem Universum und uns selbst zu leben. Zazen heisst unsere Gedanken zu ignorieren, und unserem Atem zu folgen, tief in unser Unbewusstsein. Dort unten, gut geschützt vor unseren Versuchen alles bewusst  kontrollieren zu wollen, liegt der Schatz, die Quelle, von der unsere Leben hervor fliessen. In sich selbst ist diese immerwährend, heiter und scheinbar leer  –  aber voll von Möglichkeiten.

Berg ist Berg – Wasser ist Wasser

Kommentar:

Wenn wir als Anfänger mit der Praxis des  Zen beginnen, dann ist für uns ein Berg ganz selbstverständlich ein Berg, und Wasser ist einfach Wasser. Mit der Zeit, wenn wir gewissenhaft üben, und sich unsere Einsicht in die wahre Natur des Universums vertieft, kommen wir zu der Ansicht, dass ein Berg nicht wirklich ein Berg ist. Er sieht aus wie ein Berg und wird so genannt, aber seiner wahren Natur nach ist er „leer“, hat keine wirkliche Existenz. Dasselbe gilt für das Wasser. Neben die gewöhnliche, relative Sicht auf die Erscheinungsformen, gesellt sich die absolute Sicht, in der die Dinge als leer erscheinen, als bloss wahrgenommene Formen, wie etwa ein Film auf der Leinwand, oder eine Fatamorgana. Im Laufe unseres Übens springen wir dauernd von der einen Sichtweise zu der anderen und zurück, bis sich mit der Zeit eine umfassende Schau einstellt die beide Aspekte vereint. Dann können wir aus tiefstem Herzen, und mit profundem Verständnis bejahen:
BERG  IST  BERG – WASSER  IST  WASSER!
Oder wie es das Herz Sutra ausdrückt, welches wir ja immer und immer wieder rezitieren:
Shiki Fu I Ku; Ku Fu I Shiki; Shiki Soku Ze Ku; Ku Soku Ze Shiki!
Form ist Leere; Leere ist Form; Form ist genau Leere; Leere ist genau Form!

 

Immerwährender Reiner Wind

Kommentar:

Es gibt ein Zen Sprichwort:
Ein kühler Wind weht sanft durch unseren Geist – ganz gleich was geschieht.
Ganz gleich was geschieht – ein kühler Wind weht sanft durch unseren Geist.
Dieser „Wind“, was ist das? Wir kennen das Kôan von der Fahne die sich im Wind bewegt. Die Mönche diskutieren darüber ob es der Wind ist der die Fahne bewegt, oder ob es die Fahne ist die sich im Wind bewegt. Der Meister sagt ihnen: „Es ist euer Geist der sich bewegt.“ Im Grunde bewegt sich weder die Fahne, noch der Wind, noch der Geist. Dieses „im Grunde“ ist der Immerwährende Reine Wind, der all die unzähligen Erscheinungsformen auf wunderbare und geheimnisvolle Weise hervorbringt. Er weht ohne zu wehen. Er weht durch uns und das ganze unendliche Universum hindurch und bewegt alle Dinge, ohne Anfang – ohne Ende. Wenn wir uns seinem Wehen überlassen ist alles in Ordnung, so wie es ist. Dann weht ein kühler Wind sanft durch unseren Geist – ganz gleich was geschieht.

 

Weisse Wolken ziehen, ziehen

Kommentar:

Die Wolken am Himmel! Immerzu verändern sie sich, sind in Bewegung, bleiben unfassbar und ohne feste Substanz. Manchmal sind sie lieblich, manchmal aber auch drohend und erscheinen gefährlich. Den Anfängern im Zen raten wir, dass sie ihre Gedanken beim Zazen behandeln sollen wie die Wolken; sie kommen lassen und auch wieder gehen lassen, ohne mit ihnen etwas anzufangen. Da stehen die Wolken also für unsere Gedanken, unsere Meinungen, unsere Urteile, unsere Ideen, unsere Wünsche und Hoffnungen, und unsere Illusionen. Pausenlos ziehen sie durch den leeren Himmel unseres Bewusstseins. Es braucht sehr viel Übung sie einfach kommen und gehen zu lassen. Oft sind sie faszinierend und interessant, und wir erliegen der Versuchung uns mit ihnen zu beschäftigen, sie zu verfolgen und weiter zu spinnen. Gelingt es uns das bleiben zu lassen, und geduldig und beharrlich bei unserem Atem zu bleiben, dann beruhigen sie sich. Wir selbst werden stabil und gefestigt, kommen in eine tiefgründende Ruhe und Gelassenheit. Dieser Zustand wird Samadhi genannt.
Auf einer wesentlich tieferen Ebene aber können die Erscheinungsformen, das was wir mit unseren Sinnen als Wirklichkeit wahrnehmen, als Wolken gesehen werden, die kommen und gehen, von dem „Immerwährenden Reinen Wind“ in Bewegung gehalten. Alles ist unbeständig, alles verändert sich, nichts bleibt wie es ist. Das Diamant Sutra endet mit dem folgenden wunderbaren Vers, der auf poetische Art diese Sichtweise ausdrückt:

Also sage ich dir:

Alle zusammengesetzten Dinge sind wie ein Traum,
eine Fantasie, eine Luftblase und ein Schatten,
sind wie ein Tautropfen und ein Blitz.
So sollten sie betrachtet werden.

– Und ebenso solltest du

Diese vergängliche Welt auf diese Weise betrachten:
Als einen Stern in der Dämmerung, eine Luftblase in einem Fluss,
einen Tautropfen, einen Gewitterblitz in einer Sommerwolke,
eine flackernde Lampe, ein Trugbild und einen Traum.

 

Grundsätzlich existiert nicht ein Ding

Kommentar:

Normalerweise sind wir überzeugt, dass die Welt, und auch die Sonne, der Mond und die Sterne existieren, weil wir sie mit unseren Sinnen wahrnehmen. Wenn wir aber ehrlich, nüchtern und genau diese Sache betrachten, dann müssen wir sagen: Alles was wir erst einmal wirklich haben ist eben diese Wahrnehmung; wir sehen, hören, riechen, schmecken, spüren. Erst in einem zweiten Schritt interpretieren wir das Wahrgenommene, nennen es der allgemeinen Übereinkunft folgend einen Baum, oder ein Auto, oder was auch immer. Erst mit diesem Schritt wird die Wahrnehmung zu einem „Ding“. Sie verselbständigt sich sozusagen, unterscheidet und trennt sich von den anderen „Dingen“, bzw. Wahrnehmungen, und auch von  dem Wahrnehmenden. In tiefem Samadhi, der Versunkenheit in unserem eigenen Unbewussten, können wir Eins werden mit der Umgebung, der Situation, den „Dingen“ die uns umgeben. In diesem Zustand sind unsere Wahrnehmung, das Wahrgenommene, und wir als die Wahrnehmenden nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Wer je diese Erfahrung des Eins Seins gemacht hat, weiss um das tiefe Gefühl des „nach Hause Kommens“, welches sich dabei einstellt; weiss um die Erholsamkeit dieses Zustandes. In dieser absoluten Verbundenheit mit dem grenzenlosen Universum und all den Erscheinungsformen, die sich darin zeigen, existiert tatsächlich kein einziges „Ding“. Ob wir Menschen es wissen oder nicht: Unser Herz sehnt sich zutiefst nach diesem Aufgehobensein in der absoluten Verbundenheit.

Nichi nichi kore kôjitsu
Jeder Tag ist ein guter Tag

Meister Unmon sagte zu seinen Schülern: “Ich frage nicht nach eurem geistigen Zustand vor dem fünfzehnten Tag des Monats, aber sagt mir etwas darüber nach dem fünfzehnten Tag des Monats.” Niemand antwortete. Also gab Meister Unmon die Antwort selbst für uns alle: “Jeder Tag ist ein guter Tag.”
Nach dem Mondkalender erscheint am fünfzehnten Tag des Monats der Vollmond, welcher als Sinnbild steht für klare Erleuchtung. “Nach dem fünfzehnten Tag des Monats” meint also nach einer solchen Verwirklichung.
In Bezug auf “jeder Tag ist ein guter Tag” sind viele getäuscht durch das “gut”, und denken, dass gut das Gegenteil von schlecht ist. Darum denken viele, dass “guter Tag” ein glücklicher, schöner Tag bedeutet. Unmon jedoch hat das nicht so gemeint. Unmons “guter Tag” ist viel tiefsinniger. Er weist hin auf gerade hier – gerade jetzt, noch nie dagewesener, nicht wiederholbarer, absoluter Tag. Ein gutes Kôan für uns alle ist: “Was für eine Art Tag ist das?”
Ich möchte hier meinen eigenen Kommentar anfügen. Vom erleuchteten Standpunkt, vom absoluten Standpunkt aus gesehen ist jeder einzelne Moment so wie er ist, und kann nicht anders sein; und jeder Tag ist so wie er ist, und kann nicht anders sein. Ganz egal wie wir diesen Tag wahrnehmen – als langweilig, regnerisch, schrecklich, grossartig, glücklich oder traurig u.s.w. – wir können seiner Soheit nicht entfliehen. Jeden Moment voll zu akzeptieren, jeden Tag voll zu akzeptieren so wie er ist, das ist der Schlüssel zu “jeder Tag ist ein guter Tag”. Die Dinge sind so wie sie sind, und so sind auch die Momente und die Tage. Dieses “so wie sie sind”, oder “so wie es ist” bedeutet in sich selbst “gut”, weit über gut und schlecht hinausgehend. Zen Praxis ist die Praxis radikaler Akzeptanz.

Der Meister (Rinzai) sprach zu den Mönchen: «Ihr, die ihr dem Weg folgt, bezüglich dem Buddha-Dharma ist keine künstliche Anstrengung erforderlich. Seid einfach natürlich, bemüht euch nicht (*Buji).

Scheissen, urinieren, Kleider anziehen,
Nahrung essen, und wenn müde sich hin legen.
Narren mögen mich auslachen, aber die Weisen verstehen.

Ein alter Weiser sagte:

Wenn du etwas ausserhalb deiner selbst suchst,
Bist du ein grosser Narr.

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*Buji:  Nichts zu tun, frei sein von Absichten, alles erledigt haben. Die Person, die nichts zu tun hat, ist der edle Mensch.

Aus den Anmerkungen des Übersetzers:
Bu bedeutet nicht, oder Verneinung. Ji meint Event, Angelegenheit, Tat, Erscheinung, Affäre oder Ding. Wörtlich bedeutet Buji alle Ji zu verneinen. (…) Wenn wir die wahre Natur des Universums vollkommen erkennen, sehen wir, dass Ji in Wirklichkeit nichts anderes ist als Buji. Es gibt nichts zu tun, ganz gleich wie sehr wir uns bemühen. Von einer leicht anderen Perspektive aus gesehen lautet die getreueste Übersetzung von Buji Jetzt, oder so-wie-es-ist. In diesem Moment, kannst du Jetzt-heit, oder so-wie-es-ist verbessern? Natürlich nicht. Gerade jetzt, kannst du, oder können deine Umstände anders sein? Wenn du verstehst, dass der jetzige Moment Alles ist was es gibt, dann hast du keine Wahl als zu einer radikalen Akzeptanz zu finden. Und es ist diese radikale Akzeptanz die nichts anderes ist als wahrer Frieden und echte Gelassenheit. Buji bedeutet Eins zu sein mit Soheit, meint die bedingungslose Natur von «Let it be» (lass es sein), nichts wollend, ohne Überflüssiges.

«Mein Verhältnis zum Tod ist eine natürliche Erwartungshaltung.»

Interview von Taikyu Sandy Kuhn Shimu. Nachzulesen in ihrem Buch «Im Angesicht des Todes – und jetzt?»

Shôkan Oshô Marcel Urech wurde 1949 in Basel geboren. Seit über 30 Jahren praktiziert er Zen. Seit 1991 ist er Schüler von Eido Shimano Roshi, Abt des «Dai Bosatsu Zendo Kongo-ji» im amerikanischen Bundesstaat New York, in dem Shôkan Oshô Marcel Urech sechs Jahre lang als Rinzai-Zen-Mönch trainierte. 2008 wurde Shokan von Eido Roshi als «Oshô», als Zen-Lehrer, anerkannt. Zurzeit leitet er das Shôgen-Dôjo in Zürich, in dem er regelmässig unterrichtet. Ich bin sehr dankbar, dass Shôkan Oshô Marcel Urech bereit war, meine Fragen zum Thema «Leben, Sterben und Tod» auf eine äusserst ehrliche, direkte und offene Art und Weise zu beantworten. Seine Ansichten und Äusserungen sind eine groasse Bereicherung, gerade weil Shôkan Oshô Marcel Urech sowohl mit der westlichen als auch mit der östlichen Betrachtungsweise und dem Umgang mit diesem Thema vertraut ist. Ich schätze Shôkan Oshô Marcel Urech als meinen spirituellen Lehrer sehr.

Wann bist du zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert worden?

Als ich die ersten Male mit dem Tod zu tun hatte, war ich etwa 6 oder 7 Jahre alt. Es betraf Tiere, die wir zu Hause in Terrarien oder Aquarien hielten, die dann eines Tages einfach bewegungslos da waren. Meine Eltern erklärten mir, dass sie tot seien. Das war für mich ziemlich natürlich, und ich war nicht sonderlich beeindruckt.

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Weshalb nur ist die endlich gewordene Schöpfung und Offenbarung (Samsara) so leidvoll und böse?

Aus Gottes Willen.

Wie kann Gott so etwas wollen?

Das ist unerforschlich. Jener Kraft kann kein persönlicher Beweggrund untergeschoben werden; jenem Einen, Unendlichen, Allweisen, Allmächtigen Wesen kann kein Wunsch, kein Zweckwollen zugeschrieben werden. Gott ist von Handlungen, die in seiner Gegenwart geschehen, unberührt; nehmen Sie als Vergleich die Sonne und das, was auf der Welt geschieht.

Es hat keinen Sinn dem Einen, bevor es zu dem Vielen wurde, Verantwortung und Beweggründe zuzuschreiben. Den vorgezeichneten Lauf der Dinge aber als Gottes Willen anzusehen ist eine gute Lösung für das Problem des freien Willens.

Ist der Geist beunruhigt infolge eines Gefühls des unvollkommenen und unbefriedigenden Charakters dessen, was uns zustösst, oder dessen was von uns begangen oder unterlassen wird, dann ist es klug, das Gefühl der Verantwortung und des freien Willens fallen zu lassen, und sich nur als das von dem Allweisen und Allmächtigen bestimmte Werkzeug zu betrachten, und zu tun und zu leiden, wie es Ihm gefällt. Er trägt alle Lasten  –  und schenkt uns Frieden.

Aus einem Dialog mit Ramana Maharshi